Vor 25 Jahren in Schwäbisch Gmünd
Herrmann Rettich kam 1983 nach Schwäbisch Gmünd. Es war ein Jahr, in dem die Arbeitslosigkeit so hoch war wie nie seit Ende des Zweiten Weltkriegs. Man hatte auf Versammlungen und in Seminaren, in den Betrieben und in den "Gewerkschaftlichen Monatsheften" genug darüber diskutiert, dass Arbeitszeitverkürzung Arbeitsplätze sichert. Die IG Metall hatte 1978/1979 in der Stahlindustrie durch einen Arbeitskampf für die 35 Stunden-Woche zusätzliche Freischichten und die Verlängerung des Urlaubs auf sechs Wochen erkämpft. Jetzt waren die Gewerkschafterinnen und Gewerkschafter entschlossen, den Weg zur 35 Stunden-Woche fortzusetzen. Die Zeit war reif zum Handeln, als Herrmann Rettich von der Bildungsstätte Lohr zur IG Metall nach Schwäbisch Gmünd kam.

Im Ende September 1983 beschloss die große Tarifkommission der IG Metall in Esslingen, mit der Forderung nach der 35-Stunde-Woche bei vollem Lohnausgleich in die kommende Tarifrunde zu ziehen. Im Januar 1984 findet eine große Solidaritätskonferenz in Frankfurt statt. Motto: Arbeitszeit verkürzen heißt Arbeitsplätze sichern. In den Verhandlungen im Frühjahr 1984 kommen die Tarifparteien nicht voran, obwohl mehr als 300.000 Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer in der Metallindustrie an Warnstreiks teilnehmen. Am 18. April 1984 beschließt die Tarifkommission in Nordwürttemberg/Nordbaden die Urabstimmung.

Herrmann Rettich: "Die Urabstimmung war immer das Schwierigste bei einem Arbeitskampf. Wir waren meistens nicht sicher, wie das Ergebnis ausfallen würde. Die Quote ist ja recht hoch. 75 Prozent Zustimmung zur Forderung und zum Arbeitskampf müssen erreicht sein. Das Schwierige daran ist: Jeder muss ja für sich selbst entscheiden. Kann ich mir das erlauben? Wie stark ist meine Zustimmung zu der Forderung? Was bin ich bereit, für die Forderung in Kauf zu nehmen? Komme ich mit einem geringeren Einkommen aus? Was wird mir und meiner Familie während eines Arbeitskampfes passieren? Das muss jeder für sich entscheiden. Bezogen auf die Forderung ist es jedesmal eine Nagelprobe. Die Urabstimmung war immer das Aufregendste."

Herrmann Rettich: "Von Arbeitgeberseite und von der Politik wurde die Auseinandersetzung sehr stark politisiert. Bundeskanzler Kohl wurde oft zitiert "Die 35-Stunden-Woche ist dumm und töricht." Die Angriffe waren scharf: "Gewerkschaften sind die Totengräber der deutschen Wirtschaft." oder "Die 35-Stunden-Woche ist der Tod der deutschen Wirtschaft." In den Betrieben war die japanische Flagge abgebildet mit den Worten: "Die Konkurrenz aus Fernost lässt grüßen." Dahinter steckte der Arbeitgeberverband VMI. Es war eine Machtprobe, die an unserer Forderung aufgehängt wurde. Das spürten auch die Beschäftigten in den Betrieben. Kurz vor der Urabstimmung war klar: Es geht um eine Machtprobe." Bei der Urabstimmung kommt die erforderliche Zustimmung zum Arbeitskampf klar zustande - auch in Schwäbisch Gmünd(siehe Dokumente).

Am 14. Mai treten 13.000 Metallerinnen und Metaller in Nordwürttemberg/Nordbaden in den Streik. Die sogenannte Minimax-Strategie kommt zum Tragen: Wenige ausgewählte Betriebe mit großer Fernwirkung werden von der IG Metall zur Arbeitsniederlegung aufgerufen. Aus Schwäbisch Gmünd ist kein Unternehmen dabei. Mit Aussperrungen will der Arbeitgeberverband die IG Metall kleinkriegen. Acht Tage später werden alle Beschäftigten der ZF in Schwäbisch Gmünd in die Auseinandersetzung gerissen. Sie werden nach Hause geschickt - ohne Lohn.

Herrmann Rettich, Alfons Leinmüller und die Kolleginnen und Kollegen aus dem Türlensteg haben nun alle Hände voll zu tun. Sie erstellen Listen der IG Metall-Mitglieder für die Auszahlung des Streikgeldes, mieten Räume als Treffpunkte, entwerfen und drucken Flugblätter, planen den Einsatz der Aussperrungsposten, organiseren Solidarität, setzen Pressemeldungen ab und vieles vieles mehr. Das Ziel: Gemeinsam aktiv gegen das Unrecht der Aussperrung. So werden die Zu- und Auslieferungen aus den ZF-Werken von den Beschäftigten blockiert. ZF-Vorstandsmitglied Schillhammer: "Was machen denn die Leute hier? Die können doch zu Hause bleiben." Aber es werden immer mehr, berichtet Herrmann Rettich, immer mehr Kolleginnen und Kollegen versammelten sich vor den Toren, bis schließlich ein großer Demonstrationszug durch das Werk 1 (heute GOA-Gebäude) zieht. Dabei ist Fasia Jansen mit dem traditionellen Gewerkschaftssong: "Keiner schiebt uns weg."

Herrmann Rettich: "Viele Jahre später habe ich eine ehemalige Märklin-Kollegin zufällig beim Bäcker getroffen. Sie sagte zu mir: 'Herr Rettich, denen haben wir es damals mal richtig gezeigt.' Ja, die Auseinandersetzungen hatte für die Menschen eine große Bedeutung. Die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer konnten zeigen, dass sie sich nicht immer nur in ihren Alltag und in ihr Schicksal ducken wollen. Aus den Kämpfen und Aktionen spricht eine große Sehnsucht nach einer freien Gesellschaft. Eine Sehnsucht nach Selbstbestimmung und nach Mitbestimmung. Es war eine kämpferische Zeit. Der Schritt zur Arbeitszeitverkürzung war richtig. Er steht in der Tradition gewerkschaftlicher Auseinandersetzung. Wir werden diese Debatte weiterführen müssen. Zur Beschäftigungssicherung und auch, damit Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer mehr Zeit für das Leben zu haben."
Im Anhang finden sich als weitere Dokumente Presseartikel von 1984. Mehr zur Auseinandersetzung für die 35-Stunden-Woche ist bei der IG Metall Bezirksleitung Baden-Württemberg zu finden. Einfach dem Link folgen. Dort sind auch Videoclips und Fotos eingestellt.
Was 1984 die Kolleginnen und Kollegen bei Knecht Filter in Lorch erlebt haben, darüber berichten wir hier in den nächsten Tagen.
Letzte Änderung: 10.07.2009